8. März 2018

Die Hand am Regler: Ein Einblick in die Echokammer

In diesem Thread im kleinen Zimmer wurde in den letzten Tagen ausführlich spekuliert, welche Ursachen die in den letzten Wochen sich akkumulierende Netzzeitabweichung letztendlich hervorgerufen haben, und ich gebe zu, dass ich am Anfang auch ordentlich daneben gelegen habe und den Grund - aufgrund der Kältewelle und der daraus resultierenden Stromknappheit - in Frankreich vermutet. Das war zu einem Zeitpunkt, an dem noch von keiner verantwortlichen Stelle eine Stellungnahme ergangen war, und trotz der selbst für aufmerksame Beobachter der europäischen Elektrizitätswirtschaft enormen Komplexität habe ich mich ein wenig aus dem Fenster gelehnt, natürlich mit Irrtumsvorbehalt.

Dann kam die Stellungnahme der ENTSO-E (European Network of Transmission System Operators - Electricity), die die Ursache eindeutig einer politisch bedingten Unregelmäßigkeit auf dem Balkan zuordnet, konkret in Bezug auf Serbien und das Kosovo. Ich habe aufgrund der seit längerem bekannten Versorgungsprobleme im Kosovo und der in letzter Zeit wieder verschärften Haltung Belgrads eine Vermutung angestellt, die in einem Artikel der ZEIT geteilt wird: "Im Kosovo fließt zu wenig Strom in das Netz ein, Serbien könnte und müsste das ausgleichen – tut es aber nicht. Die beiden streiten um die Kosten und die Bezahlung".

Diese Fakten sind seit Dienstag um ca. 15:00 (bzw. 14:54 auf einer frequenzgesteuerten Uhr) öffentlich bekannt, sie sind stimmig und mit einem Mindestmaß an Hintergrundwissen bezüglich Stromversorgung nachvollziehbar. Um so fragwürdiger ist daraufhin ein Artikel auf Tichys Einblick, der diese Begründung - entsprechend der Erwartung ihrer Leser - rundheraus bestreitet. Neben einem weitgehend faktentreuen Artikel von Dunkelflautenautor Hennig schäumt der zu diesem Thema einschlägig verortbare Holger Douglas geradezu vor Wut.

Dieser Artikel ist ein dermaßen krudes Pamphlet an Fehlinformationen, Missverständnissen, falsch konstruierten Zusammenhängen, dass eine Energiewende-Abhandlung der Grünen im Vergleich dazu geradezu als ingenieurwissenschaftlicher Fachbeitrag durchgehen könnte. Ein paar Beispiele:

Das aktuelle Problem besteht seit dem 3. Januar 2018. Seit dem Tag sinkt die Netzfrequenz kontinuierlich nach unten.
- Fehlinformation: Die Frequenz sinkt nicht kontinuierlich, sondern ist stabil auf leicht niedrigerem Niveau.

Es gibt genau definierte Grenzen; die Frequenz darf um 10 Milliherz nach oben oder nach unten schwanken. Geht es darüber hinaus, wird die sogenannte Regelleistung aktiviert, also mehr Energie von Kraftwerken in die Netze eingespeist. (...) Geht die Frequenz noch weiter in den Keller, gibt es akut zu wenig Strom, ab einer Grenze wird dann das Netz automatisch abgeschaltet. »Lastabwurf« heißt das in der Fachsprache so schön. Zunächst trifft es nur bestimmte Bereiche wie zum Beispiel große Städte, eine sogenannte Kaskadenregelung tritt in Kraft. 

- Falsch konstruierter Zusammenhang: Douglas tut so, als wäre die Frequenzstabilität die Regel und der Einsatz von Regelleistung die Ausnahme. Dabei ist die Primärregelleistung fast immer im Einsatz. Und was das "dürfen" angeht: Eine kurzfristige Frequenzabweichung ist bis 180 mHz "erlaubt". Es ist also keineswegs so, dass nach Überschreitung des "Totbandes" sofort irgendwelche Lichter ausgehen.

Über die Ursache des aktuellen und in dieser Stärke noch nie aufgetretenen Einbruchs der Netzfrequenz gibt es nach außen derzeit nur Spekulationen.
 
- Fehlinformation: Es handelt sich hier nicht um einen Frequenzeinbruch, und schon gar nicht um einen nie dagewesenen. Richtige Frequenzeinbrüche schauen so aus, und wenn es nach Douglas gehen würde, müsste es jeden Monat mal finster werden. Douglas wirft hier Netzzeitabweichung und Netzfrequenz an sich durcheinander.


Ob das (die Begründung der ENTSO-E, Anm. Petz) so stimmt, ist noch offen. Auffallend ist, daß sich das Absinken über einen relativ langen Zeitraum erstreckte und die täglich geringe fehlende Netzzeit sich so addieren konnte, daß der Fehler solche technischen Folgen wie bei den Weckern hervorrufen konnte. Normalerweise funktioniert das Ausgleichen mit Regelenergie sehr viel schneller.
- Falsch konstruierter Zusammenhang: Die Ausregelung der Netzzeitabweichung funktioniert über die sogenannte "Quartärregelung" und hat mit der normalen Frequenzstabilisierung nichts zu tun. 


Frankreich muss massiv Strom importieren, während sonst französischer Atomstrom Deutschland aus der Klemme hilft.

- Missverständnis: Douglas hat wie so viele Kommentatoren nicht berücksichtigt, dass Strom ein europaweites Handelsgut ist. Da Frankreich mit seinem hohen Kernenergieanteil im Sommer traditionell Überschüsse produziert, ist der französische Atomstrom dann einfach billiger und wird gern gekauft, und zwar von verschiedenen Ländern. Dann fließt er häufig durch Deutschland, ohne dass "wir" eine "Klemme" hätten. Das Weinregal meines Supermarkts ist auch voll von französischen Tropfen, von einem Weinmangel in Deutschland ist mir nichts bekannt.

Der geschätzte Kollege Noricus hat in irgendeinem Zusammenhang in ZkZ einmal meine Behauptung der Existenz "konservativer Echokammern" angezweifelt, und ich habe ihm als Beispiel Tichys Einblick genannt. Artikel wie dieser und die zahlreichen Leserkommentare (am auffälligsten ist, dass alle, die die ENTSO-E-Aussage für glaubwürdig halten, dislikes bekommen) stützen meine Behauptung. Hier geht es nicht darum, die Ursache für die Netzzeitabweichung zu bestimmen, sondern seine schon vorhandene Meinung zu bestätigen, ohne Rücksicht auf die Fakten.

Einem rationalen Diskurs über Energiepolitik - jetzt hätte ich fast geschrieben "erweist man damit einen Bärendienst", aber ich glaube, dass diese zum Thema Stromversorgung manchmal gar nicht so verkehrt sind. :-)

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Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: Braunkohlekraftwerk bei Obilić, Kosovo. Bild: Julian Nitzsche, CC-BY-SA 3.0. Für Kommentare bitte hier klicken.