6. Mai 2018

1841: "Ein Tag auf dem Planeten Pluto"

"Die 'Hohlwelten' zumal haben etwas so Weichselzöpfiges, daß eine abschließende Aufklärung noch nicht möglich ist." (Arno Schmidt)

The Earth has holes at both its poles,
And in the land between them
There dwells a race from Inner Space
(No mortal man has seen them).
F. Gwynplaine MacIntyre, "Improbable Bestiary: The Hollow Earthers"



(Alexander v. Ungern-Sternberg. Bildquelle Wikimedia)

Der Sonntag den Künsten!

Vor einigen Wochen hieß es aus Gelegenheit einer kleinen, durchaus trivialen literarischen Archäologie zu Levin Schücking und seinem im Morgenblatt für gebildete Leser erschienenen Fragment über "Swift in Moor-Park":

Im selben Jahrgang, 1841, erschien in den ersten Ausgaben des Januars, in den Nummern 2 bis 4 (2.-4. Januar) eine kleine Erzählung des ebenfalls heute verschollenen Freiherrn von Sternberg (einer der Hauptbeyträger des Blattes), dessen vollständiger Name Alexander von Ungern Sternberg (1806-1866) heute nur noch mit dem Titel seiner Sammlung von Kunstmärchen von 1850, Braune Märchen, in schemenhafter Erinnerung ist, die zu ihrer Zeit im Gewand des Volkstümlich-Burlesken das seinerzeit Äußerste an Erotisch-Anzüglichem austesteten. (Der Titel war zur jener Zeit selbstredend unverfänglich. Heute wäre es genau andersherum.) In dieser Fingerübung im Genre dessen, was Fachleute heute als "Proto-Science Fiction", als Vorläufer des Genres vor den ersten "richtigen" Verfassern dieser Spielart wie H.G. Wells und Kurd Laßwitz, bezeichnen, geht es um einen "Tag auf dem Planeten Pluto." Wenn man im Hinterkopf behält, daß die Entdeckung des neunten Planeten (seit 2006 leider seiner planetaren Würde entkleidet) mitsamt seiner Benennung erst 90 Jahre später, 1930, erfolgte, dann könnte man mutmaßen, hier sei einem Autor in absolut unheimlicher Weise ein Blick hinter die Nebel des Zukünftigen gewährt worden. Enfin, es verhält sich anders. Dazu demnächst mehr.
Wie versprochen, hier nun der (freilich literarisch ebenfalls durchaus unbedeutende) kleine Text:

*          *          *

"Ein Tag auf dem Planeten Pluto". Vom Freiherrn von Sternberg

[Nr. 2. Donnertag, den 2. Januar 1841]
"Auf dem Planeten Pluto?" fragen die Leser. "Wir kennen keinen Planeten Pluto." - Gemach. meine Damen und Herren! es gibt allerdings einen Planeten Pluto. Wissen Sie nicht, was der große Halley und der Professor Steinhäuser über ihn sagen? Lesen Sie die Schriften dieser gelehrten Herrn, und wenn Sie weder Zeit noch Lust dazu haben, so will ich Ihnen das Hauptsächlichste erzählen, was sich auf die Entdeckung des merkwürdigen Planeten Pluto bezieht.

Doch zuvörderst etwas von mir. Ich bin aus einer kleinen deutschen Stadt gebürtig, und mein Vater, der einiges Vermögen besaß, bestimmte mich frühzeitig zu einem sehr ergiebigen Handwerk, zu dem eines Schusters. ich weiß nicht, wie es kam, daß ich dabei nicht gedeihen wollte, steckte nun etwas von dem Blute Jakob Böhm's in mir oder hatte ich wie Hans Sachs Beruf zum Dichter; gleichviel, meine Schuhe und Stiefeln geriethen nicht, ich selbst aber wurde, wie mein Vater sich ausdrückte, immer mehr und mehr ein "inwendiger Mensch." Ich grübelte und sann, und in lauen Sommernächten blickte ich zu den Sternen auf mit jenem Auge des Forschers, das von dem gewöhnlichen sentimentalen Aufblick eines jungen pinselhaften Burschen so sehr verschieden ist. Ich war gemessen, streng in meinem äußern Bezeigen, und ein finsterer Ernst verbreitete sich über mein ganzes Wesen. Da ich in dieser feierlichen Stimmung immer fortfuhr, schlechte Schuhe zu machen, so jagte mich eines schönen Tages mein Meister aus der Werkstatt, und mein Vater erklärte mir zu gleicher Zeit, daß er daheim für mich keinen Platz habe, und daß ich in die weite Welt wandern könne. Ein schreckliches Wort, doch für mich nicht schrecklich. Mein Genius flüsterte mir zu, daß es mir nirgends fehlen könne. Der Zeitpunkt meiner Flucht aus dem väterlichen Hause fiel gerade in eine Festperiode in den Annnalen der Astronomie. Drei Kometen wandelten in kurzer Frist nacheinander über die Himmelskuppel, und eine Menge Sterne, die früher einsam gelebt hatten, zeigten sich jezt dem überraschten Auge der Forscher als Pärchen, und in der Milchstraße gingen Wunderdinge vor. Ich beschloß, mich dieser erhabenen Wissenschaft ganz zu widmen, und fand nach manchem vergeblichen Schritt ein Unterkommen beim Astronomen Cellarius, der mich als Famulus aufnahmen.

Der Mann gab sich die größte Mühe mit mir, und eine Zeitlang ging es auch ganz gut. Ich lernte die Namen der Sterne und konnte die bedeutendsten an den Fingern herzählen. Aber eines Tages fiel ein Zeitungsblatt in meine Hände, und darin fand ich folgenden Aufruf: "Herr R.R. ist durch Jahrlange Forschungen zur Gewißheit zur gewißheit gelangt, daß das innere unserer Erde bewohnt ist, und zwar, daß daselbst um ein großes Centralfeuer sich ein Planet herum bewegt, dem er vorläufig den Namen Pluto beigelegt. Er fordert hiemit Jedem, dem die Wissenschaft am Herzen liegt, und der Muth und Ausdauer mit Gewandtheit und Beobachtungsgeist verbindet, auf, sich mit ihm auf die Reise zu begeben, um den neuen Planeten aufzufinden." Ess ey, hieß es weiter, bereits ermittelt, daß sich an den Polen eine Öffnung befinde, die in das Innere der Erde leite, und durch diesen Schlund müsse die hochverehrliche Expedition eindringen, um zu ihrem Ziele zu gelangen.

Ich zeigte meinem Meister diese merkwürdigen Zeilen, und er lächelte. "Was willst du thun?" fragte er mich. "Ich will mich zur Mitreise melden?" entgegnete ich kurz. "Du bist ein Phantast, ein Schwärmer!" rief er. "Bleibe hier auf der Overfläche und nähre dich redlich." - "Aber Columbus," bemerkte ich feurig, "entdeckte Amerika; wäre es ihm wohl geglückt, wenn er auch hätte zu Hause bleiben und sich dort redlich nähren wollen?" - "Ah ja, Columbus," antwortete mein Lehrer; "immer wird dieser Mann genannt, wenn von der Realisirung hirnloser Hypothesen die Rede ist. Doch reise nur, mein Sohn, ich will dich nicht abhalten, dein Glück zu machen. Vielleicht gelingt es dir, ein Stückchen Wolke vom Planeten Pluto in die Tasche zu stecken; das wäre genug,, dir hier ein sorgenfreies Leben zu verschaffen." - "Ein Stückchen Wolke?" fragte ich verwundert. - "Ja," erwiderte der Meister; "die Wolken des Pluto sind anderer Natur als die unsrigen. Nimm dieses Buch und unterrichte dich genau über diesen merkwürdigen Planeten. Er ist auch mir nicht unbekannt, und es gab eine Zeit, wo ich mich recht ernstlich mit seinen stillen Thälern, seinen seltsamen Seen und seinen unbegreiflichen Nebeln beschäftigte. Geh, studiere das Buch, ehe du dich zur Reise entscheidest."

Ich nahm den Folianten, den der Gelehrte mir aus seinem Bücherschranke reichte, und machte mich damit auf meine einsame Stube. Es war Nacht, ich zündete meine Lampe an, ich goß immer wieder Öl zu, ich las und las und las immerfort. Die Uhren im Städtchen schlugen um mich her, zehn, elf, zwölf, mit solcher Geschwindigkeit, als liefe das Leben plötzlich wie toll. Ich weiß nur, daß ich wie betäubt das Buch zuschlug und mein Lager suchte.

Es mochte sehr früh am Morgen seyn, als ich mich auf den Weg machte. Dieselbe sonderbare Schnelligkeit der Zeit trat auch hier wieder ein, und obgleich ich einen sehr weiten Weg zurückzulegen hatte, so befand ich mich doch, ehe ich mich's versah, in der berühmten Stadt, wo der berühmte Herr N. seine Reisegesellschaft hinbeschieden hatte. Welche Masse großer Namen traf ich da, Männer mit unendlich langen Titeln und noch längern Complimenten, Akademiker und korrespondierende Mitglieder, Ritter und Nichtritter, Sterne der Wissenschaft und Meteore der Ruhmredigkeit, Begründer neuer Systeme und Zerstörer der alten, graue, erstarrte Pedanten und elegante Lebemänner. Ich würde nicht fertig, wenn ich alle die hohen Häupter aufzählen wollte, die sich zur Reise in die Unterwelt anschickten. (Fortsetzung folgt)

[Nr. 3. Freitag, den 3. Januar 1841]
Wir gelangten nach vielen vergeblichen Versuchen endlich an jenen Höhlenschlund, der in das Innere der Erde leitet; aber wer sollte nun zuerst hinein? Es entspann sich ein Streit, und dieser drohte der ganzen Expedition gefährlich zu werden. Da man sich am Eingang der Unterwelt befand, war es gewiß keine Kleinigkeit, zu entscheiden, wer zuerst die Nase in diese außergewöhnlichen Zustände stecken stecken solle. Die Vulkanisten oder Feuermänner, das sind Leute, die da annehmen, das Innere der Erde bestehe in einem ewig brennenden Feuer, nahmen diese Ehre leidenschaftlich für sich in Anspruch. Dagegen erschöpfen sich die Neptunisten oder Wassermännern in Epigrammen gegen die Feuermänner. Der Streit zog sich in die Länge, es wurde nichts entschieden; aber auf einmal, ich wußte nicht, wie es zugegangen war, befanden wir uns auf dem Marsch im Dunkeln, dem Innern der Erde zu. - Je weiter wir vordrangen, desto unheimliche wurde es um uns her. Die Straße, statt sich zu erweitern, wurde immer enger, und zuletzt mußten wir auf allen Vieren, wie eine Herde Lämmer, enggedrängt, vorwärts treiben. Eine trübe, ungewisse Helle und ein ewiges Rauschen wie von entfernten Wasserfällen traf unsere Sinne; aber Keiner verlor den Muth. Die Feuermänner behaupteten schon das Zentralfeuer zu sehen, und die Wassermänner machten frohlockend auf den Sturz der unterirdischen Gewässer aufmerksam. - Ich habe vergessen zu melden, daß es mir gelungen war, in passender Verkleidung meine Geliebte mitzunehmen, die Nichte meines Meisters, ein engelschönes, nur etwas korpulentes Mädchen, das sich mir zu Liebe für die unterirdische Expedition leidenschaftlich interessirte, und nicht von meiner Seite weichen wollte.

Wir kamen auf dem Pluto an, wie, dies zu beschreiben, ist mir gänzlich unmöglich. Ich glaube, ein unterirdischer Windzug faßte uns, oder ein in irgend einer Ecke unnütz liegender Magnet ließ uns seine Anziehungskräfte fühlen; kurz wir verloren plötzlich den Boden unter uns, und als wir wieder neuen spürten, war dieser kein anderer, als der Planet Pluto. Ich erkannte ihn sogleich an der Beschreibung, die ich in dem Folianten meines Meisters gelesen. Es war in der That ein höchst seltsamer Planet. Wir befanden uns auf einer großen Wiese, die mit den glänzendsten Blumen bedeckt war. Aber wir standen allein, ich und Friederike; die übrige Gesellschaft war, der Himmel weiß wohin verschlagen; dies kümmert uns aber wenig.

Als poetisch gesinnte Liebende schickten wir uns an, sogleich den Sonnenaufgang zu beobachten; ich nenne es den Sonnenaufgang; aber eigentlich war es das Erscheinen der Masse von gepresster und in Feuergluth gerathener Luft, die im Mittelpunkt der Erde brennt, und der wir jezt ansichtig wurden. Ganz verschieden von den Erscheinungen auf der Oberfläche der Erde sind sie in derselben, und so mußte auch der Tagesanbruch hier ganz anders seyn als oben. Nichts gleicht der wundervollen Pracht, die unter Tage blendete. als wir zum Firmament aufsahen. Eine Schaar Wolken, bestehend aus purem Golde, Silber und Platina, deckte in langen Schichten den Morgenhimmel; sie wallten mit dem Dröhnen eines majestätischen Gewitters auseinander, und nun brannte wie ein kolossales chinesisches Feuerwerk in tausend Strömen, Flammen, Spießen, zuckenden Strahlen und und farbigen Schlangen das Zentralfeuer von unsern Augen. Friederike und ich zitterten vor Freude, und unsere Blicke hingen mit dem Ausdruck begehrlicher Sehnsucht an den hellpolirten silbernen Wolken, die wie eine kostbare Stickerei auf dem dunkelpurpurnen Himmel schimmerten, hin und wieder von leichten goldenen Nebelflören durchzogen. - Dies will aber erklärt seyn. das im Erdschlauch entzündete Centralfeuer übt auf den Pluto eine entgegengesezte Kraft aus, als die Sonne auf die Oberfläche der Erde; natürlich sind daher auch alle physikalischen Erscheinungen dort umgekehrt. Die Schwerkraft wirkt nicht nach unten, sondern nach oben, dem Sitze des Centralfeuers zu, und demnach müssen alle schweren Körper sich in die Luft erheben; was bei uns das leichteste, ist dort das Schwerste, nämlich die Wolken, und sie sind nicht aus Dünsten gebildet, sondern aus gediegenem Gold und Silber. Meine Erlebnisse wöhrend des einzigen Tages, den ich auf dem Pluto zubrachte, überzeugten mich nur zu sehr von dieser merkwürdigen Thatsache.

Als wir uns an dem Anblick des neuen Tages genugsam gelabt hatten und fast schon die Augen uns schmerzten von dem blitzenden Golde und dem farbigen Feuer, dachetn wir daran, wie wir uns ein Früchstück verschaffen könnten, denn wir bedurften dessen sehr. Noch hatten wir keinen Plutonianer zu Gesicht bekommen, nicht einmal ein Thier, außer Fliegen und Schmetterlingen, die sich in großen mengen in dieser sonderbaren Natur herumtrieben. Endlich entdeckten wir in einer Felsenspalte ein kleines, graues, sehr mageres Männchen, das dort sein Morgenschläfchen hielt und sehr verwundert war, als meine vorwiztige Hand ihn am langen grauen Barte zupfte. Nach Art der wahren Weisen schien er jedoch den Grundsatz zu haben, über nichts sich zu verwundern; er blickte mich und Friederiken mit gleichgültigem Auge an, schnürte seinen ärmlichen grauen Kittel fester und fragte uns, was wir wollten. "Zeige uns eine Quelle oder einen Bach," rief ich, "an dem wir vor allem unsern Drust löschen können." - "Das will ich," entgegnete er, "allein der Weg dahin ist beschwerlich; ihr müßt einen hohen Berg ersteigen." - "Wie," rief ich verwundert, "sollte nicht hier irgendwo ein Brunnen seyn, aus dem wir es bequemer haben könnten?" Der Alte lächelte. "Das Wasser bei uns zu Lande findet sich immer nur auf den höchsten Bergspitzen." - "Ganz recht," rief ich eilig und bemüht, meine Unwissenheit zu bedekcen, "ganz recht, das Wasser ist schwer und kann also nicht anders als auf den höchsten Bergen seyn. Komm, Friederike, laß uns den Berg erklettern, der dort vor uns im hellen Schimmer leuchtet." - "Thut das," sagte der Alte, "nur seyd vorsichtig und beschwert euch mit nichts, was eurem natürlichen Gewicht etwas zulegt." (Schluß folgt)

[Nr. 4 - Sonnabend, den 4. Januar 1841.]
Wir dankten und machten uns auf den Weg. Aber diese Wanderung war eine der gefahrvoillsten, beängstigendsten Momente meines Lebens. Wie oft hatte ich daheim in meiner Jugend einen Berg erstiegen mit dem heitersten Muthe und die lustigsten Lieder singend; hier sollte es ganz anders seyn. Kaum waren wir auf dem ersten Abhang, als schon eine seltsame Schnelligkeit in unsere Füße fuhr; wir mußten laufen, wir mochten wollen oder nicht, und rannten an dem steilsten Felsen gerade hinauf. Aha! dachte ich, wir sind zu schwer! und ich machte Friederiken den Vorschlag, allen unsern Ballast abzuwerfen. Ich entledigte mich vor Allem eines halben Dutzends Skizzen- und Schreibbücher, die ich mitgenommen, um meine Beobachtungen zu notiren; auch ein astronomisches Instrument, was mir am wehesten that, mußte wandern. Alsbald ließ die wahnsinnige Lust zu rennen nach, und ich konnte wieder in gemäßigterem Tempo aufwärts laufen. Nicht so war es jedoch mit der guten Friederike. Wie schon gesagt, sie war keine Sylphide, und nun hatte sie noch, aus unnöthiger Vorsicht, ihre massive goldene Kette, Münzen und anderes schweres Gehänge, kurz ihr ganzes kleines Erbtheil zu sich gesteckt. Ich sah mit Schrecken, wie sie, die sonst daheim den kleinsten Hügel nicht ohne Keuchen ersteigen konnte, federleicht sich ein Felsenriff hinaufschwang. "Halt!" rief ich, "das kann nicht so fortgehen; du mußt dein Gold von dir werfen, Liebe!" - "Nimmermehr!" erwiderte sie weinend. - "Du mußt, oder du und ich sind verloren!" - "Weßhalb?" - "Wegen des umgekehrten Gesetzes der Schwere." Die diesen Worten faßte ich mit einem raschen Griff ihre Kette. riß sie ab und warf sie hin. Aber welch ein Wunder geschah vor unsern Augen! Die goldene Kette flog wie eine Feder in die Luft, und wahrscheinlich macht sie jezt einen Theil der Wolken des Pluto aus. Gleichviel, meine arme Friederike war aus der schrecklichsten Gefahr gerettet.

Wir erreichten vollends schnell den Gipfel des Berges und mit ihm die Quelle, die auf der höchsten Spitze wie eine Säule von Krystall aufrecht stand und flüssig schimmerte. Welch eine Wohlthat, sich hier zu lagern und den Durst zu löschen! Zugleich fanden wir Früchte, die sehr gut schmeckten und unsern Hunger stillten. Wir waren so froh, so zufrieden und dachten durchaus nicht an die nächste Stunde,, und doch war unser ganzer Zustand, gelind ausgedrückt, höchst bedenklich. Die Liebe hat aber das Eingenthümliche, daß sie sich überall ihrem süßen Nichtsthun und Nichtsdenken überläßt, selbst wenn sie auf einem so unzuverlässigen Boden weilt, wie die Oberfläche des Planeten Pluto.

Gesättigt von der Mahlzeit und berauscht von Liebesgekose, wollten wir nach Verlauf eines Stündchens uns erheben, um den Rückweg anzutreten, als ich mit Entsetzen bemerkte, daß Friederike aus meinen armen gewaltsam wie ein Luftballon in die Höhe strebte. Sie hatte offenbar ein wenig zu viel gefrühstückt und damit unseligerweise ihr natürliches Gewicht bedenklich vermehrt. sie fiel - entsetzlich! - in die Wolken, wenn es mir nicht gelang, sie zu halten. Welch eine Situation! Auf der Erde hatte ich die gute oft einen Engel genannt und die poetische Befürchtung ausgesprochen, daß sie unversehends mir in den Himmel entschweben möchte (man muß doch nie den Teufel an die Wand malen!); jezt wurde sie buchstäblich in die Wolken gezogen. Und nicht ein schönes Gefühl zog sie dahin, sondern ein gutes Frühstück! Das war so prosaisch, und dich so jammervoll. "Friederike!" schrie ich in Todesangst, "du fällst!" - "Ja," erwiderte sie, "ich falle nach oben!" Mit diesem Worten hielt sie sich nur noch mühsam an den Zweigen eines Feigenbaumes fest. Meine Verzweiflung erreichte den höchsten Grad, ich riß mir die Halsbinde ab, kletterte mit der Schnelligkeit eines Eichkätzchens am Baume hinauf und band die Geliebte an einem Beine fest, so daß sie wie ein Vogel immer entfliegen wollte und nicht konnte. Nie werde ich die peinvollen Stunden vergessen, die ich auf dem Baume ausharrte, bis das Centralfeuer sich wieder zum Niedergange senkte, wodurch die Anziehungskraft mehr und mehr abnahm, so daß ich endlich meine Angebetete wieder losbinden konnte. - Wir stiegen den Berg hinab, was uns eben so schwer wurde, als wie das Erklettern eines steilen Berges auf der Erde, und langten wieder glücklich im Thale an, wo wir unsern kleinen grauen Mann wieder fanden, der uns Glück wünschte zum Gelingen unserer gefährlichen Unternehmung. ""Was mich betrifft," sezte er mit einem wehmüthigen Blick nach oben hinzu, "mir sind drei theure Gefährtinnen,auf die traurigste Weise abhanden gekommen; ich vergaß sie sorgsam zu hüten, und sie stürzten,  eine nach der andern , in den Himmel. Ich werde ihnen nie folgen können, denn mich hat die böswillige Natur so leicht geschaffen, daß ich ewig am Boden klebe."

Ich wollte eben auf diese trostlose Äußerung etwas erwidern, als das prächtige Schauspiel des versinkenden Centralfeuers meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. "Dieses Schauspiel ist herrlich!" rief ich Friederiken zu; "allein sien Genuß wiegt die Angst des heutigen Tages nicht auf. Es wäre schrecklich, wenn wir ewig auf dem Pluto bleiben müßten!" - "Das müßt ihr," erwiderte der kleine Graue mit einem boshaften Lächeln. "Es gibt keinen Weg in die Oberwelt, ihr müßtet euch denn von dem Centralfeuer verbrennen lassen. So in Atome verwandelt, seztet ihr euch an die magnetischen Kräfte der innern Erde an, darauf als Thier und endlich als Mensch zur Erdoberfläche wieder hinauf; aber diese Wanderung braucht, auf's Geringste gerechnet, tausend Jahre Zeit."

Ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus. In dem Augenblicke war es mir, als wenn das Centralfeuer ,ich erfaßte. "Friederike!" rief ich, und eine Stimme dicht an meinem Ohr antwortete: "Nun, hier bin ich ja! Wirst du endlich erwachen, träger Schläfer! Der Vater hat schon dreimal nach dir gefragt. Du sollst im Observatorium die Instrumente reinigen." - Ich sprang von meinem Bette auf; der Pluto, das graue Männchen, das Cenntralfeuer, die goldnen und silbernen Wolken, Alles war verschwunden, Friederike stand an meinem Bette. mit der Lampe in der Hand, und leuchtet mir damit unter die Augen. "Dem Himmel sei dank!" sagte ich und stieß aus erleichterter Brust einen tiefen Seufzer aus; "frühstücke so viel du willst, mein Kind, hier auf der Erde hat es nichts zu sagen, aber wenn wir wieder auf den Pluto kommen -" - "Auf den Pluto?" fragte Friederike verwundert und leuchtete mir noch näher in's Gesicht. "Was ist's mit dem Pluto?" - "Ach nichts," sagte ich, "geträumt habe ich, und und dort das Buch des Professors hat mir so seltsame Dinge in den Kopf gesezt. Das war dir eine curiose Reise, mein Mädchen!"

ich stand auf und puzte die Instrumente. So sehr ich mich anstrengte, den Pluto zu vergessen, ich blieb dennoch von der Zeit an ein Träumer, und mein erhabener Meister schüttelte den Kopf und meinte, es zeige sich immer deutlicher, wie ich doch eigentlich zur Wissenschaft verdorben sey; denn das größter Hindernis ernster Forschung sey der Hang zur poetischen Phantasterei. Und er hatte Recht; ich war einmal vom Schicksal dazu bestimmt, so ungeschickt mit Planeten wie mit Schuhen umzugehen.

*          *          *

No man who's faced the Arctic waste
And fought the savage frost there
Has found the hole beneath the Pole.
(God help thew man who's lost there!)
The Eskimos claim no-one knows
The tunnel's point of entry,
And yet they swear the hole is there,
Complete with loathsome sentry.
(F. Gwynplaine MacIntyre)

Zu dem kleinen Geheimtipps - nein, eher (um es mit dem eingangs zitierten Arno Schmidt zu sagen): Privatalterthümern - des Protokollanten gehört ein kleiner Band, den der amerikanische Romanist Rudolph Altrocchi (1882-1953) als jeu d'esprit zu den finstersten Zeiten des Zweiten Weltkriegs, 1944, bei der Harvard University Press veröffentlichte: Sleuthing in the Stacks, 1968, vor einem halben Jahrhundert, als der Weltgeist wiederum einmal, wenn auch auf genau umgekehrte Weise, eine Auszeit von der Vernunft nahm, noch einmal als Nachdruck bei der Kennikut Press erschienen und seitdem zu einem jener Titel geworden, die auf dem Radar der meisten Leser niemals auftauchen werden, aber in Sachen literarischer Archäologie und des Ausmessens krauser Fürfallenheiten ein kleines exzentrisches Genre der kauzigen, verspielten Gelehrsamkeit für sich bilden - zusammen etwa mit John Livingston Lowes' The Road to Xanadu (1928), das die zahllosen Quellen kartiert und vermißt, aus denen sich Coleridges "The Rime of the Ancient Mariner" speist wie in dessen verrätseltem Gedichtfragment "Kublai Khan" die Gärten des kaiserlichen Lustpalasts ("In Xanadu did Kublai Khan / A stately pleasure-dome decree: / Where Alph, the sacred river, ran/  Through caverns measureless to man / Down to a sunless sea."), A.J.A. Symons' The Quest for Corvo (1934), die Spurensuche nach einem der exzentrischsten Autoren und Hochstapler der englischen Jahrhundertwende, Frederick Rolfe (1860-1913), oder Hugh Trevor-Ropers Hermit of Peking (1976), das sich der Vita von Edward Backhouse widmet, dessen gefälschte Memoiren und "Dokumente" zwei Generationen westlicher Historiker über die Verhältnisse und Vorkommnise am Hof der letzten Kaiserin Chinas, des "alten Buddhas," Cixi, 慈禧(1835-1908), in die Irre leiteten. Altrocchis Spurensuche widmet sich unter anderem den "Ancestors of Tarzan", all jenem Berichten von Begegnungen (fiktiv oder münchausenisch), aus denen Edgar Rice Burroughs die eine oder andere Anregung fürs das Leben des fünften Earl of Greystoke geschöpft haben könnte und die, nolens volens, im Nachinein zu seiner Ahnengalerie addiert werden. 

Literarische Archäologie, wie sie in diesen Büchern getrieben wird, braucht auch im Zeitalter des Internetzes noch diligente Archivarbeit, den Abgleich zahlloser Dokumente, persönliche Devotion und nicht zuletzt die Intervention dessen, was Hannah Arendt den "Engel der Bibliotheken" genannt hat: den glücklichen Zufallsfund, das Auftauchen des einen, gesuchten Dokuments, eines Namens, einen Hinweises zur rechten Zeit. Im Fall von Backhouse waren dies die Tagebücher, in denen der exzentrische Einsiedler in seinem Pekinger Hutong fernab von allen ihm verhaßten englischen Landsleuten minuitiös seine Flunkereien und Erfindungen registrierte, um für später nachzulieferende "Aktenstücke" eine durchgehende Datenkonsistenz sicherzustellen; bei Lowes war es der Zufallsfund in den Tagebüchern Coleridges, daß dieser akribisch während der Entstehungszeit seines epischen Meerspuks all die Titel der Reiseberichte und Abhandlungen über Aberglauben und Legenden registriert hatte, die dann als bengalisch leuchtende Details in die Verse Eingang fanden. 

Und mitunter hilft auch das Netz (bzw. die auf ihm mittlerweile zugänglichen Texte), schlagartig eine solche Lücke zu schließen, die Frage nach den Quellen schlüssig zu beantworten und ad acta zu legen. In unserem Fall hilft es, in genau jener Zeitschrift, in der seine kleine Story das Jahr 1841 einläutete, ein paar Jahre zurückzublättern, als es noch nicht, wie seit 1837 Morgenblatt für gebildete Leser hieß, sondern, wie den meisten, eben, Lesern heute, soweit sie sich für die Literatur zwischen Goethezeit und Biedermeier interessieren, geläufiger: Morgenblatt für gebildete Stände. Dort, in der Beilage Literatur-Blatt, in der Nummer 48 vom 9. Mai 1834, findet sich auf den Seiten 190 bis 192 eine (anonyme) Rezension des im Jahr zuvor im Verlag G. Basse in Quedlinburg und Leipzig erschienenen Titels Das Innere der Erde. Oder: Ueber die Bewohner der Unterwelt, von Ad[albert?] Gegenes. Und dort finden sich nun sämtliche Details, mit denen Ungern-Sternberg seinen Text ausstaffiert hat, einschließlich der Wortwahl vom "Erdschlauch", den "Feuermännern" als Bezeichnung der Vulkanisten (denen der Geheimbde Rath G. zu Weimar erinnerlich spinnefeind war) und dem Hinweis aufs Platin als Wolkenmaterial. Die referierende Passage (man sieht den Rezensenten förmlich nicht aus dem Kopfschütteln herauskommen) lautet, beginnt auf S. 191:

"Alle diejenigen, welche an einen feuerflüssigen Zustand des Innern der Erde glauben, haben den Namen Feuermänner oder Vulkanisten erhalten. Gewohnt, sich die Erde als Himmelskörper zu denken, konnte man leicht auf den Gedanken gerathen, das, was man oben am Himmel erblicke, auf tief im Innern des Erde wieder zu suchen. Wie oben, sollten auch hier im hohlen Erdschlauch eine oder mehrere kleine Erdkugeln umherrollen. Der Nordamerikaner Cleves Symmes glaubte, daß [192] die innern Erdkugeln auf gleiche Art wie die Erdrinde von Geschöpfen bewohnt würden. Um sie und die Kugeln selbst kennen zu lernen, verlangte er in den öffentlichen Blättern des Jahres 1818 eine Gesellschaft von wenigstens 100 Reisegefährten. Mit ihnen wollte er durch einen der 12 bis 16 Grad weiten, um die Erdpole befindlichen offenen Schlünde in das innere der Erde vordringen und hier alles sorgfältig untersuchen. Daß die Erdrinde an beiden Polen offen sey, davon war er fest überzeugt. nach seiner Meinung werden die Nordlichter und Südlichter aus einem Lichtstoff gebildet, der aus diesen Schlünden aufsteigt, ob durch natürliche Gründe oder durch eine künstliche Illumination der unterirdischen Bewohner, ist nicht angegeben. Natürlich verstand sich zu einer solchen Reise kein vernünftiger Mensch. - Andere Männer erboten sich zwar nicht zu einer unterirdischen Reise, benutzen aber den geglaubten unterirdischen Planeten, um mit seiner Beihülfe einige Erscheinungen auf der Erdoberfläche zu erklären. Zu solchen Erscheinungen gehören vorzüglich die an der Magnetnadel, von denen man ehemals keine befriedigenden Ursachen auffinden konnte. Um doch eine Erklärung zu geben, ließ Dr. Halley die Wände der Erdrinde magnetisch seyn und in der Höhle selbst eine dicke Magnetnadel frei umherrollen, welches durch wechselseitiges Bestoßen und Anziehen der magnetischen Wände bewirkt wurde. Nach dem Stande des Pols dieses Magnetkerns erhält auf der Erdoberfläche die Magnetmadel einige Zeit hindurch eine östliche Abweichung von der geraden Linie nach dem Nordpol.  Hat sie sich von ihr etwa 22 Grad entfernt, so steht sie still und fängt an nach Westen zurückzukehren. bis sie sich nach dieser Seite hin eben so von der Nordlinie entfernt hat, wo dann wieder der Gang nach Osten beginnt. Wegen des vielen Mißführenden in dieser Halleyschen Hypothese hat man sie in neuern Zeiten aufgegeben, und sie mit derjenigen des Hansteen vertauscht, nach welcher die Erde zwei magnetische Axen, folglich auch vier magnetische Pole haben soll, welche sich um die Erdaxe und erdpole drehen. - Weiter ausgebildet ist die Halleysche Annahme in der Hypothese des Professors Steinhäuser in Halle. Dieser zündete im Mittelpunkt der Erde ein großes Feuer an, der den Erdschlauch erhellte. Um das Centralfeuer aus zusammengrepreßter Luft lief ein unterirdischer Planet, der den Namen Pluto oder Proserpina erhalten, und auf der Oberfläche von lebenden Geschöpfen bewohnt seyn sollte. Natürlich zeigte sich den Plutonianern die Schwerkraft, wenn man sie mit der auf der Erdoberfläche verglich, völlig entgegengesezt. Hier wirkt sie nach unten der erleuchtenden Sonne gegenüber, auf dem Pluto aber nach oben im Sitze des Centralfeuers. Eine natürliche Folge ist, daß die Wolken und nebel die Schwere des Goldes und der Platina haben, das Wasser aber dem Quecksilber gleichen, auchlezteres sich nicht in den Thälern und Vertiefungen befinden, sondern auf den höchsten Bergkuppen seinen Sitz haben müßte. Leichter als diese Gewässer und Wolken sind die Bewohner und ihre Wohnungen, für die kein Versinken zu befürchten ist; im Gegentheil müssen Anstalten getroffen werden, um das den Luftbällen gleichende Aufsteigen zu verhüten. - Professor Bertrand nahm einen im Innern der Erde vorhandenen, frei umherrollenden kern an, der, von irgend einem Kometen angezogen, sich auf die ihm gegenüberstehende Seite der Erdhöhle begibt, den hier befindlichen Theil der Erdkugel durch vermehrte Schwere niederdrückt, dadurch die Wasser veranlaßt, sich nach dieser Gegend zu stürzen und alle Niederungen zu überfluthen. Jezt liegt dieser Erdkern in der südlichen Halbkugel, wo er durch seinen Druck den hier vorhandenen größeren Wasserreichthum und die vielen Inselwelten hervorgebracht hat. Nähert sich einmal ein Komet zu sehr der nördlichen Halbkugel, so wird ihm der Erdkern entgegenrollen und durch sein Gewicht diese Halbkugel niederdrücken. Dann versinken die hier befindlichen Festländer in den nacheilenden Wasserfluthen. aus denen die höchsten Gegenden und Bergkuppen wie große und kleine Inseln vorragen. dagegen steigt die südliche Halbkugel auf, das Meer zieht sich zurück, und in der jetzigen Südsee tauchen neue Länderstriche auf- Diese gleichen anfänglich den Sandwüsten, bis sie nach und nach durch Luft und Verwitterung organischer Körper fruchtbar und und langsam von den wenigen, aus den Fluthen geretteten Menschen angebaut werden. Ein solches wechselseitiges Auftauchen und Versinken, wie Arme eines Hebels, ist vorzüglich in den Polargebieten bemerkbar; die Länder um den Erdgleicher hingegen bleiben in der alten Lage, und werden nur theilweise von den über sie wegstürzenden Fluthen verheert und in große Sandwüsten umgewandelt. Nach alten Sagen haben sich die jetzigen Menschenstämme von den Hochgegenden des heißen Erdgürtels um den Erdgleicher nach nach den niedriger liegenden Erdstrichen verbreitet und diese allmählich bevölkert. Aus demselben Grunde liegt jezt um den Nordpol viel festes Land, der Südpol hingegen ist in weiten Eisfeldern und Meeren begraben.

"Der Verfasser weist die Thorheit aller dieser Hypothesen nach, und insbesondere derjenigen, nach welcher das Innere der Erde bewohnt seyn soll: "Würde man nicht einen Naturforscher verlachen, der im Bauch eines Elefanten eine Thierwelt von Ratten und Mäusen annähme oder im Innern eines hohen Waldbaums eine Pflanzenwelt von Gräsern und kruppigem Gesträuch aufsuchen wollte? Und doch verführe er nicht anders als derjenige, der an eine Planetenwelt im Innern des Erdplaneten glaubt."

*          *          *

Some hardy soul must reach the Pole
(Equipped with charts and data)
And find up there, the creatures' lair
Beneath the polar strata.
Some day, no doubt, we'll rout them out 
By ending our reliance
On ancient myth, and siding with
The tools of modern science.
(F. Gwynplaine MacIntyre)

John Cleves Symmes (1780-1829), der als erste aus der "knolligen Hypothese" einer leeren Erdkugel zur Erklärung des Wanderung der Magnetpole (mit der Edmond Halley mutatis mutandis richtiger lag, als es ihm je hätte bewußt sein können) ein in der Öffentlichkeit bekanntgewordenes Phantasma in der Traditionslinie versunkener Kontinente, der Wrackteile der Arche des Patriarchen Noah bis hin zu den Parkplätzen havarierter Fliegender Untertassen verwandelte, machte die erstaunte Welt am 10. (nicht 1.) April 1818 mit seiner bahnbrechenden Entdeckung bekannt.

(Bildquelle Wikimedia)

In Deutschland wurde dieses Phantom, in überaus affirmativer Weise, zuerst zehn Jahre später, 1828, in der anonym erschienenen Titel Die Unterwelt, oder Gründe für ein bewohnbares und bewohntes Innere der Erde publik gemacht.



(Der gesamte, 146 Seiten umfassende Text kann unter diesem Link der Bayerischen Staatsbibliothek nachgelesen werden: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10134953/bsb:BV014846402?page=3)

Johann Gottfried Steinhäuser, der zweite Kronzeuge unseres Nachwuchsastronomen, wurde 1768 in Plauen geboren; 1805 wurde er Professor für Mathematik an der Universität von Wittenberg, ab 1816 lehrte er als Professor für Bergwissenschaft (die Bezeichnung "Geologe" war noch nicht kurrent) an der Bergakademie in Halle, wo er auch 1825 starb. In der Allgemeinen Deutschen Biographie heißt es in bezug auf seine Magnettheorie. "Hier in Wittenberg schrieb er seine "Theorie über den Magnetismus der Erde" nieder und bestimmte viele Jahre voraus, welche Veränderungen die Magnetnadel haben würde. Interessant ist, was er in Beziehung auf diesen Gegenstand im J. 1819 an einen seiner Freunde schrieb: "Ich zweifle nun nicht mehr an dem Dasein eines Trabanten im Innern der Erde, der mit seinem eisernen Scepter die Erdoberfläche dirigirt. Zu Luther's Zeiten war er uns am nächsten."" Publiziert wurden seine Aufsätze zum Thema in Gilbert Annalen der Physik, und  zwar 1817 im 128. Stück, S. 393 und 1820 in drei Fortsetzungen im 78., 86. und 96 Stück, beginnend mit der S. 267. (Der Briefwechsel, den Steinhäuser mit Goethe geführt hat, insgesamt 11 Briefe aus den Jahren 1799 und 1800, die allesamt um Phänomene des Magnetismus und deren experimentellen Nachweis kreisen, fallen vor die Entwicklung seines speziellen Erklärungsansatzes. Sie sind von Julia Eckle mit umfangreichen Erläuterungen ediert im 123. Jahrgang des Goethe-Jahrbuchs von 2006, S. 218-45 publiziert worden)

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Destroy the Hollow-Earthers! Let nightmares melt away!
Like motes of dust, it seems they must avoid the light of day!
Avoid such fiends in future, and give them wider berth...
I'd rather see reality; who needs a Hollow Earth?
(F. Gwynplaine MacIntyre)


Daß sich das Phantom der Hohlerde, in mehreren Ausprägungen, als ein kleiner Seitenstrang durch die Kollektion der Phantasmen à la Däniken weiter durchzieht bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, kann man als bekannt voraussetzen; literarisch hat diese Vorstellung zuerst bei Edgar Allen Poe gezündet; der Höllensturz seines Arthur Gordon Pym, der diesen fiebertraumhaftesten aller Seeromane beschließt, ist darauf zurückzuführen wie die kurze Vision, die Hans Pfaahl auf seinem Ballonflug zum Mond auf die Nordpolregion unseres blauen Planeten erhascht. (Strenggenommen findet die die erste Verwendung in Ludvig Holbergs Nicolai Klimii Iter Subterreaneum von 1741, dessen Motivik Giacomo Casanvoa für die so endlosen wie absolut unlesbaren 2000 Seiten seines fünfbändigen Icosameron frank und frei stibizt hat: der vollständige Titel sei behufs des Zeitkolorits einmal hierhergesetzt: Icosameron ou histoire d’Edouard, et d’Elisabeth qui passèrent quatre vingts un ans chez les Mégamicres habitans aborigènes du Protocosme dans l’intérieur de notre globe, traduite de l’anglois par Jacques Casanova de Seingalt Vénitien Docteur ès loix Bibliothécaire de Monsieur le Comte de Waldstein seigneur de Dux Chambellan de S.M.I.R.A. - bei beiden Titeln handelt es sich aber um Satiren der Zeitumstände und Zeitgenossen, im Fall Casanovas um eine unfokussierte Utopie, die dem Autor Gelegenheit zu endlosen Moralpredigten liefert im Stil butzenscheibenhaftester Hausväterliteratur; als Fußnote sei vermerkt; daß der Druck der gut zweihundert Exemplare in Prag auf Privatkosten des Bibliothekars des Grafen von Waldstein diesen - den Bücherverwalter, nicht den Grafen, der ihm auf seine alten Tage seine Sinekure geboten hatte - zwei volle Jahresgehälter Vorschuß kostete und dazu führte, daß er hinfort nicht mehr mehr in der Gesellschaft des Grafen gelitten war und mit dem übrigen Gesinde speisen mußte). Die logische Konsequenz, nicht nur die Erde als Hohlkugel zu phantasieren, sondern uns selbst als Bewohner auf der Innenseite anzusiedeln, blieb dann wiederum einem Amerikaner, Cyrus Reed Teed (1839-1908), vorbehalten (ob Karl Neupert, der die gleiche Idee in Deutschland ab 1901 propagierte, sie von Teed übernommen hat oder, wie er selbst behauptet hat, eigenständig darauf verfallen ist, dürfte wohl nicht mehr zu klären sein - es sei denn, jemand unternimmt, mit Hilfe des "Engels der Bibliotheken", eine ausgedehnte Tour durch die Archive mindestens zweier Kontinente.) Daß es auch hier zu Parallelzündungen kommen kann, kann man nett aus jener Notiz sehen, die der Professor für Physik und Mathematik in Göttingen, Georg Christoph Lichtenberg zwischen April 1778 und Herbst 1780 unter der Nummer 591 in sein "Sudelbuch" F einträgt: "Die Meinung des Menschen, der zwar die Erde für rund hielt, aber glaubte wir giengen auf der concaven Seite wie die Ochsen im Trett-Rade, verdient angemerkt zu werden."    





Ulrich Elkmann

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